Abenteuer Odenwald
 
"Jedes Abenteuer ist nur eine Entscheidung von dir entfernt."
                                                                      (Lisz Hirn)

Unter einem Abenteuer versteht man laut Wikipedia eine risikoreiche Unternehmung, die sich stark vom Alltag unterscheidet. Es geht um das Verlassen des gewohnten Umfeldes und darum, etwas zu unternehmen, das interessant, faszinierend oder auch gefährlich zu sein verspricht und bei dem der Ausgang ungewiss ist. In diesem Sinne gelten und galten Expeditionen ins Unbekannte zu allen Zeiten als Abenteuer. Träumen nicht die meisten Menschen davon, einmal aus dem Alltag auszubrechen, ausgetretene Pfade zu verlassen und etwas Waghalsiges zu tun, das keinem bestimmten Zweck dient? Doch ich bin nicht wie die meisten Menschen - ich bin kein Träumer, ich bin ein Macher! Und wozu habe ich schließlich ein Adventure Bike mit 30-Liter-Tank, Sturzbügeln und Speichenrädern?! Um das Abenteuererlebnis zu maximieren, kündige ich noch rasch meine Mitgliedschaft beim ADAC, und außer einem Schokoriegel, einer Kamera und 20 Euro Bargeld nehme ich nichts mit. Kein Navi, keine Karte, kein Telefon. Und auch mein Ziel verheißt Abenteuerliches: Der sagenumwobene Odenwald mit seinen Spukschlössern und Geschichten von Rittern, Drachentötern und Dämonen.

Das Abenteuer kann beginnen!

Um 6:30 Uhr steige ich aus den Federn, schlüpfe in die Textilkombi und schleiche aus dem Haus, während meine Frau noch schläft. Ich habe ein mulmiges Gefühl, weil ich mich nicht von ihr verabschieden konnte, denn schließlich ist ungewiss, ob wir uns wiedersehen. Das Abenteuer beginnt bereits damit, dass ich gar nicht so genau weiß, wo der Odenwald eigentlich anfängt, und auf eine Karte habe ich ja bewusst verzichtet. Daher strande ich zunächst an der Bergstraße, wo ich mir das Kloster Lorsch anschaue, das im achten Jahrhundert errichtet wurde und seit den 1990ern zum UNESCO Weltkulturerbe gehört.

Kloster Lorsch
Von Lorsch irre ich planlos weiter auf der Suche nach dem Odenwald. Unterwegs treffe ich auf Einheimische, die ihre Hunde ausführen. Ich erkundige mich nach dem Weg, doch das Motorengeräusch macht eine Verständigung schlicht unmöglich. Ich weiß mir nicht anders zu helfen, als einfach der Nase nach zu fahren. Erstmals auf dieser Reise meldet sich der innere Kritiker zu Wort. Wäre ich nicht doch besser in meiner Komfortzone geblieben? Mit der U-Bahn in die Innenstadt fahren, um bei McDonald's einen Bacon & Egg McMuffin zu frühstücken, statt bei einer Fahrt ins Ungewisse alles aufs Spiel zu setzen, nur wegen meines egoistischen Selbstfindungstrips? Ich halte an einem kleinen Wasserlauf, werfe den Helm ins feuchte Gras und lege den Kopf in die Hände. Was meine Frau daheim jetzt wohl gerade macht? Sie fehlt mir wirklich sehr. Wir wissen das, was wir haben, immer erst zu schätzen wenn es fort ist. Ob ich nicht doch besser dem Irrsinn ein Ende bereiten und einfach umkehren sollte? NEIN! So leicht lasse ich mich vom Universum nicht unterkriegen! "Mehr hast du nicht drauf?!" schreie ich heiser in den Morgenhimmel. Ein Spaziergänger sieht mich verdutzt vom anderen Ufer an. Als er sein Telefon zückt, eine sehr kurze Nummer wählt und hektisch ins Mikrofon flüstert, suche ich das Weite.
Eine Oase für Motorradreisende an der Bergstraße

Ich folge der 460 nach Heppenheim, der Heimat des vierfachen Formel 1 Champions Sebastian Vettel. Als ich über den Marktplatz schlendere, verfinstert sich der Himmel und erste Tropfen prasseln auf mich nieder. In dieser Gegend kann sich so etwas leicht zu einem veritablen Wolkenbruch auswachsen. Ich finde Zuflucht in einem Gotteshaus, wo ich mich ausruhe und genüsslich die Hälfte meines Schokoriegels vertilge. Als ich wenig später wieder ins Freie trete, hat sich das Unwetter bereits verzogen. Meine Gebete wurden offenbar erhört. Auf einer üblen Holperpiste erklimme ich den 295 m hohen Schlossberg, auf dem die Starkenburg thront. Von einem Turm habe ich eine fantastische Aussicht auf die Bergstraße und den Odenwald. Schwer wabert der Morgendunst zwischen den Bergrücken und unterstreicht die mystische Atmosphäre dieses Ortes.

Marktplatz in Heppenheim
Kirche St. Peter in Heppenheim
Starkenburg
Bei einer kurzen Rast lasse ich den Blick schweifen
Bereits im Mittelalter vergass man die Alltagssorgen bei einer Partie Korbball

Erstmals genieße ich das Gefühl der totalen Freiheit. Die Reise entwickelt allmählich eine ganz eigene Dynamik, wie es eine kurze Wochenendtour niemals könnte. Es zieht mich weiter nach Bensheim, wo ich auf Schloss Auerbach anhalte, um ein paar Erinnerungsfotos zu schießen. Die Burgruine auf dem Auerberg gilt als eine der imposantesten Burgen in Südhessen. Von hier fahre ich nach Lautertal, um das Felsenmeer zu besichtigen. Die Sage vom Felsenmeer handelt laut Wikipedia von zwei Riesen, die in der Gegend von Reichenbach wohnten, der eine auf dem Felsberg, der andere auf dem Hohenstein. Als sie Streit bekamen, bewarfen sie sich mit Felsbrocken. Der Hohensteiner war im Vorteil, denn er hatte mehr Wurfmaterial. So kam es, dass der Felsberger Riese bald unter den Blöcken begraben wurde; angeblich hört man ihn noch gelegentlich darunter brüllen. Die ersten Wochenendausflügler haben sich bereits eingefunden und klettern ächzend und mit roten Köpfen über die Felsen. Mir ist das ehrlich gesagt zu gefährlich, denn ein verknackster Knöchel könnte leicht das Ende meiner Reise bedeuten.

Der Besuch auf Schloss Auerbach...
...hätte mich beinahe den Kopf gekostet.
Das Felsenmeer in Lautertal
Kriegsgräberdenkmal

Stattdessen fahre ich an den Marbach Stausee, der am Wochenende ein beliebter Bikertreff ist. Die Sonne brennt und ich entledige mich meiner Jacke. Im Schatten sitzend genieße ich einen Cappuccino vom (nicht-motorisierten) "Coffee Bike", höre mir die abenteuerlichen Geschichten der anderen Motorradreisenden an und verzehre den Rest meines Schokoriegels, bevor er der Hitze zum Opfer fällt. Von jetzt an muss ich wohl oder übel ohne Proviant auskommen. Aber dafür ist nun das Motorrad leichter, da alle meine Vorräte aufgebraucht sind.

Der Marbach-Stausee...
...ist am Wochenende ein beliebter Bikertreff.
Sinnspruch in der Obrunnschlucht
Selbst in der Obrunnschlucht nehmen Rowdys einem die Vorfahrt

Vom Stausee rolle ich nach Erbach, mitten hinein in die Kreisstadt des Odenwaldkreises. Nach der Ruhe und meist auch Einsamkeit auf meiner bisherigen Reise bin ich überwältigt und überfordert von dem Trubel der Stadt. Touristen schubsen mich achtlos hin und her, überall Hupen, Reklame und Getümmel. So viele Sinneseindrücke! Ich sehe mir kurz das Schloss und den Lustgarten an, und dann nichts wie weg hier! Mit gelupftem Vorderrad rausche ich aus der Stadt. Ich spüre allmählich, wie diese Reise an meinen Kräften zehrt. Hitze, Hunger und Durst machen mich fast verrückt. Doch da ist noch etwas anderes, ein Verlangen, das nicht mit Nahrung gestillt werden kann: Ich sehne mich nach meiner Frau. Ich bin schon so lange unterwegs und mein Geist ist derart von den unzähligen Eindrücken okkupiert, dass ich mich kaum noch erinnern kann, wie sie aussieht. Kurzerhand reiße ich den Lenker herum, steppe die Gänge hoch und lasse die Pferde galoppieren. Gerade noch so schaffe ich es, pünktlich zum Mittagessen um 13 Uhr daheim zu sein. Denn eines weiß ich auch in meinem derangierten Zustand noch ganz genau: Mit meiner Frau ist nicht zu spaßen, wenn sie stundenlang am Herd gestanden hat, um uns etwas Leckeres zu zaubern, und dann das Essen kalt wird, weil ich mal wieder zu spät bin...

Verwirrende Vielfalt in Erbach
Der Lustgarten in Erbach
Schloss Erbach
Der Knabe weist mir den Weg